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Ich teile diesen Text mit euch…ich denke er bietet nix Neues, interessant ist er allemal!
Wer im Internet nach dem Stichwort „Auslandsjahr“ sucht, findet viele euphorische Berichte. „Die beste Erfahrung meines Lebens“ – „unglaublich viel erlebt und jeden Moment genossen“ – „gewachsen, habe viel dazugelernt“: So und ähnlich klingen Beiträge, die deutsche Schüler über soziale Medien und Websites ihrer Austauschorganisation ins Netz stellen. Das Schuljahr in den USA, Kanada oder Neuseeland, um nur die drei populärsten Zielländer zu nennen, ist für viele Teenager der Höhepunkt ihrer Schullaufbahn.
Das sollte auch für Anja Borgers Tochter Juli so sein. Unbedingt habe die ein Highschool-Jahr in den USA verbringen wollen; ein Jahr lang habe Juli in jeder freien Minute gejobbt, um sich Taschengeld dafür zu verdienen, sagt Borger, die wie alle Familien in diesem Text wegen laufender Rechtsstreitigkeiten nicht mit ihrem richtigen Namen auftreten will. „Ich selbst war gar nicht so überzeugt von dieser Idee, aber ich konnte ihren Wunsch irgendwann nicht mehr ignorieren.“
Im Nachhinein hat die alleinerziehende Mutter sich oft gefragt, ob es besser gewesen wäre, ihrer Tochter das Projekt auszureden. Denn der große Traum entwickelte sich sehr schnell zum Albtraum.
Die Gastfamilie im kalifornischen Hinterland, die Juli aufnahm, habe die Austauschschülerin von Anfang an vor allem als Hausmädchen betrachtet; alle Arbeiten im Haushalt seien von ihr und den beiden Gastschwestern zu erledigen gewesen, sagt Borger. „Die Mutter saß derweil bei Starbucks.“
Schon nach drei Wochen habe die Familie sich bei der örtlichen Ansprechpartnerin der Austauschorganisation über Juli beschwert: Sie sei undankbar, aufsässig und respektlos, erledige ihre Arbeiten im Haushalt nicht zufriedenstellend. Wenn sich daran nichts ändere, würde sie aus dem Programm fliegen, eröffnete ihr die Lokalkoordinatorin im Gespräch.
Juli habe eine Art „Schuldbekenntnis“ unterschreiben müssen; Handy und iPad seien ihr abgenommen worden; der Kontakt mit der Heimat sei ihr untersagt worden. „Meine Tochter saß da wie auf der Anklagebank und war total geschockt“, sagt Borger. Sie könne bis heute nicht begreifen, dass ihre Tochter, „ein ganz normaler, selbstbewusster Teenager“, derart a den Pranger gestellt worden sei. Ihre Tochter sei keineswegs ein undankbarer Mensch. „Aber die Amerikaner erwarteten eine fast devote und unterwürfige Haltung.“
Über Telefone von Klassenkameraden habe sich Juli bei ihrer Mutter gemeldet. Nächtliche Telefonate, in denen viele Tränen auf beiden Seiten flossen. Sie habe sich die schlimmsten Selbstvorwürfe gemacht, sagt Anja Borger. Die Ansprechpartner der Austauschorganisation in Deutschland hätten ihr nicht helfen können, da nach erfolgter Vermittlung die US-Partner vor Ort Herren des Verfahrens seien, sagt Borger. „Mein Kind war diesem Machtmissbrauch hilflos ausgeliefert.“ Schon wenig später sei Juli dann aus dem Programm geworfen worden.
Anja Borger setzte sich ins Flugzeug, um ihre Tochter persönlich in Empfang zu nehmen – und konnte nach anwaltlicher Beratung sowie über private Kontakte schließlich doch noch eine Gastfamilie für ihre Tochter finden. „Sie wollte einfach nicht so scheitern“, sagt Borger.
Inzwischen hofft die Mutter, dass ihre Tochter a den Erfahrungen gewachsen sei. „Es hätte aber auch sein können, dass sie daran zerbricht. Ich freue mich für jeden, der eine gute Zeit im Auslandsjahr hat. Aber normal ist das leider nicht.“
Das zeigen auch die Reaktionen auf Borgers Posting (USA High School Jahr/ was ich gerne vor der Buchung gewusst hätte - #8 von mum-of-2) im „Forum Schüleraustausch“. Hier haben sich zahlreiche Eltern vernetzt, die negative Erfahrungen mit dem USA-Austausch gemacht haben.
Die aufnehmenden Familien bekommen bei diesem Modell kein Geld. „Auch deshalb ist es inzwischen schwierig geworden, genug Gastfamilien zu bekommen“, sagt Eckstein. „Auch in den USA leidet der Mittelstand unter den steigenden Lebenshaltungskosten.“
Die meisten Familien, die es sich noch leisten könnten, Austauschschüler aufzunehmen, lebten daher eher im ländlichen Raum, „wo die Preise nicht zu hoch und das Leben nicht so tobend ist“, so Eckstein. In der Regel verbrächten die Schüler ohnehin den ganzen Tag in der Schule und kämen erst abends nach Hause. „Da ist es dann egal, wenn man auf dem Dorf wohnt.“
In den Augen einer Mutter, deren Sohn das Programm vorzeitig abgebrochen hat, stellt sich das anders dar. „Das Land hat sich in den letzten Jahren sehr stark verändert. Die Armut ist gewachsen, viele ehemalige Industriestandorte sind heruntergewirtschaftet. In vielen Orten gibt es kaum noch Freizeitangebote, vor allem auf dem Land.“ Gerade in diese Gebiete würden aber die meisten Kinder vermittelt.
Sie rate von dem J1-Programm für die USA definitiv ab, so die Mutter. „Man lässt sich auf ein teures Glücksspiel mit maximal 50-prozentiger Gewinnchance ein – Leidtragender ist ein minderjähriges Kind. Bei Herausforderungen in den USA sieht die deutsche Agentur ihre Aufgabe nicht darin, dem Kind zu helfen, sondern die US-Partneragentur in Schutz zu nehmen.“
Uta Wildfeuer ist Geschäftsführerin des Arbeitskreises gemeinnütziger Jugendaustausch (AJA). Zu den Mitgliedern gehören langjährige Organisationen wie der American Field Service oder Youth for Understanding, die gegründet wurden, um nach den Weltkriegen die Aussöhnung früher verfeindeter Nationen voranzutreiben und Jugendliche zu weltoffenen, verantwortungsbewussten Menschen zu erziehen.
Die Arbeit der Mitgliedsorganisationen basiere vor allem auf ehrenamtlichem Engagement, sagt Wildfeuer. „Damit grenzen wir uns von den Unternehmen ab, die einen eher kommerziellen Hintergrund haben und bisweilen suggerieren, bei einem Austauschjahr handele es sich um eine Urlaubsreise.“
Die Pandemie habe vielen Organisationen schwer zugesetzt, sagt Wildfeuer. Nahmen nach einer Studie des Bildungsberatungsdiensts Weltweiser im Schuljahr 2018/19 noch rund 16.900 Jugendliche an einem Austauschprogramm im Ausland teil, waren es im Corona-Jahr 2021/2022 nur noch 5100. „Vollständig erholt haben die Zahlen sich noch nicht. Aber die Jugendlichen wollen wieder raus“, sagt Wildfeuer. Und nach wie vor seien die USA das Zielland Nummer eins. Auch Wildfeuer berichtet, dass es inzwischen große Probleme gebe, genug Gastfamilien zu finden.
Zudem weist die AJA-Geschäftsführerin darauf hin, dass die Betreuung der Jugendlichen vor Ort aufwendiger geworden sei. „Viele Kinder sind es von zu Hause gewöhnt, dass ihnen Probleme abgenommen und Hindernisse aus dem Weg geräumt werden. Deshalb müssen sie auch im Ausland intensiver betreut werden.“ Nicht immer gelingt das: Laut Weltweiser-Studie wechselt jeder fünfte Austauschschüler während des Aufenthalts mindestens einmal die Gastfamilie.
Viele Familien, die ihr Kind ins Ausland schicken wollen, setzen daher lieber auf Privatschulprogramme, bei denen sie Ort und Schule selbst auswählen können – und sowohl die Schule als auch die Gasteltern Geld für die Aufnahme erhalten. „Solche Programme sind deutlich teurer, in den USA beginnen die Preise ab 25.000 Euro, in Kanada ab 30.000, in Australien und Neuseeland eher noch darüber. Aber wie bei Urlaubsreisen ist es auch beim Schüleraustausch so, dass mitunter die teuersten Angebote als Erstes wieder ausgebucht sind“, sagt Eckstein von der Stiftung Völkerverständigung. „Dann muss allerdings auch geliefert werden. Wenn eine Organisation einen Vier-Sterne-Aufenthalt verspricht, muss man besonders darauf achten, dass man für sein Geld etwas Anständiges bekommt.“
Doch auch dafür gibt es keine Garantie, wie die Berliner Ärztin Christine Henke erfahren musste. Auch sie liegt noch mit der Organisation im Clinch, die ihr und ihrer Tochter Paula in Hochglanzprospekten einen Traumaufenthalt in Neuseeland verkauft hatte. Nach der psychisch belastenden Corona-Zeit sollte Paula im Auslandsjahr den ausgefallenen Schulstoff nachholen.
„Wir hatten der Organisation unser Anforderungsprofil sehr genau geschildert, um nichts dem Zufall zu überlassen“, sagt Henke. „Die Unterbringung sollte stadtnah sein, an der Schule sollte Paula ihren Hobbys Hockey und Reiten nachgehen können. Angeblich sollte das alles gegeben sein.“ Weit mehr als 30.000 Euro zahlte Henke für das Paket.
Doch dann kam alles ganz anders: Die Hockeykurse waren voll; fürs Reiten hätte Paula ein eigenes Pferd haben müssen. Und die Gastfamilie wohnte auf dem Land, nur angebunden durch einen zweimal täglich fahrenden Schulbus. Am problematischsten aber fand Henke, dass der Anteil der Austauschschüler an der Schule derart hoch war, dass Paula sich komplett in einer deutschen Blase bewegte – Integration? Fehlanzeige.
„Die neuseeländischen Schüler lernten alle für ihre Prüfungen, die Internationals hat man vor den Laptop gesetzt und mit irgendwas beschäftigt“, sagt Henke. „Man hatte das Gefühl, dass sie nur so viele aufgenommen haben, um die Schule zu finanzieren. Und während die anderen Auslandsschüler alle in der Nähe der Schule in der Stadt wohnten, saß Paula alleine zu Hause, blies Trübsal, chattete mit der Heimat und machte mir die Hölle heiß.“
Ihrer Tochter sei es bereits nach kurzer Zeit sehr schlecht gegangen, sagt Henke. „Ich fühle mich betrogen“, sagt Paula. „Die haben mit meinen Wünschen und Sehnsüchten gespielt.“ Die Familie hat den Vertrag mit der Schule jetzt gekündigt; über die neuseeländischen Sommerferien ist Paula erst mal nach Hause geflogen. Henke hofft jetzt, wenigstens ein Teil ihres Geldes wiederzubekommen, um Paula einen Neuanfang an einer anderen Schule zu ermöglichen.
„Für viele Highschools in solchen Programmen sind die Austauschschüler ein lukratives Geschäft. Da müssen die Organisationen aufpassen, dass ihr Anteil nicht zu hoch wird und das Verhältnis in den Klassen nicht kippt“, sagt auch Michael Eckstein. „Wenn Sie am Ende des Jahres alle deutschen Dialekte kennen, wird die Idee des Auslandsjahrs ad absurdum geführt. Land, Leute und Kultur kennenzulernen, geht nur im Kontakt mit den Einheimischen.“