Hallo Volker,
das klingt auf den ersten Blick schwierig und ich kann die Bedenken verstehen. Vermutlich war es hier nicht so günstig, die Religion anzugeben, aber das weiß man zuvor nicht. Aber ihr wisst auch noch nicht, wie die Familie tatsächlich tickt. Dass sie den Krieg befürworten ist zunächst erstmal eine Vermutung von euch, aber das muss nicht so sein. Immerhin sind die Leute Amerikaner. Was mir Sorge bereiten würde ist die Art der innerfamiliären Hierarchie. In den USA ist es in konservativen Familien offenbar ein No Go für Kinder und Minderjährige, ihre Meinungen offen zu vertreten oder mit Erwachsenen zu diskutieren. Es muss eurem Sohn daher bewusst sein, dass er (eventuell) große innerliche Anstrengungen unternehmen muss, indem er sich mit seinen eigenen Gedanken stark zurückhält falls es zu Aussagen oder Hausregeln kommt, die er nicht vertreten kann oder unangemessen findet. Das kann sehr belastend werden und ich denke manchmal zu belastend für junge Menschen aus Europa in einer doch recht langen Zeit. Aber vielleicht erweist sich die Familie auch als ganz anders als erwartet. In unserem Fall wurde unser Sohn von einem jungen homosexuellen Paar aufgenommen, beide Lehrer und Künstler in einer großen Stadt.Unser erster Gedanke war: die sind bestimmt locker und tolerant und es wird eine coole Erfahrung sein, zwei Väter zu haben. Es kam komplett anders, die Beziehung der Männer war…naja irgendwie krank und kaputt und unser Sohn steckte nun mittendrin und wusste gar nicht, was er da sollte. Auf Wunsch des einen Mannes musste er die „Väter“ mit Mr. und Familiennamen ansprechen, außerhalb der „Familie“, vor allem in der Schule durfte niemand etwas wissen von der Beziehung. Es gab kein Familienleben. Auf die Dauer wäre er dort kaputtgegangen und er hat sich selbst eine andere Familie gesucht, weil die Orga „keine mehr hatte“.
Ich befürchte, dass ihr die Familie nicht ablehnen könnt. Wir hätten dies damals tun können, aber nur aufgrund der gleichgeschlechtlichen Beziehung, fast jede andere Familie hätte man akzeptieren müssen.
Euer Sohn sollte sich erstmal freuen, dass er schon weiß, wo er hinkommt, viele wissen das ja noch lange nicht. Vielleicht kann er in Mails mit den Eltern schon ein bisschen „anfühlen“ , wie sie unterwegs sind😉. Wenn er dann da ist und wirklich merkt, dass es nicht geht (vielleicht letztendlich aus ganz anderen Gründen), dann kann er nach einer Weile mit der/dem LC sprechen. Auf keinen Fall sollte er gegen die Gepflogenheiten, Rituale oder was auch immer in der Familie „ankämpfen“ und sich um Kopf und Kragen zu diskutieren . Das kann den ATS nämlich schnell zum Verhängnis werden, leider stehen die LCs auch nicht immer objektiv an der Seite der Schüler. Die Konsequenz ist nicht selten, dass die Schüler wegen „mangelnder Anpassungsfähig“ regelrecht abgeschoben werden und das sollte er nicht riskieren sondern sein Glück dann lieber in einer anderen Familie versuchen.
Unserem Sohn wurde genau das, nämlich der Rückflug in Aussicht gestellt, weil es einfach keine Gastfamilien gab und ich war entsetzt zum damaligen Zeitpunkt. Wir müssen uns bewusst sein, dass unsere Kinder mit ihrer bisherigen Erziehung zu Diskussionsfreude, eigener Meinung und Durchsetzungsfähigkeit in den USA nicht unbedingt gern gesehen sind. Anpassung an die amerikanische Kultur bedeutet auch auszuhalten, sich zurückhaltend zu verhalten und zu versuchen, sich eher als Beobachter zu begreifen. Natürlich sollte es nie in Selbstverleugnung gipfeln, hier ist eben wirklich jeder Fall ein bisschen anders. Die Bevölkerung der USA ist so extrem vielfältig aufgrund ihrer Geschichte und das macht es so spannend. Die Familie kann auch gerade durch ihren Hintergrund eine superinteressante Erfahrung sein, die nicht jeder erlebt. Man weiss es vorher nicht, es ist (leider) alles ein bisschen ein Überraschungsei.