"Deutschland ist so unsittlich"

„Deutschland ist so unsittlich“
Getümmel an der Uni, barbusige Frauen im Fernsehen und sonderbare Benimmregeln: Deutschland kann ganz schön shocking sein, finden junge Amerikaner. Vier Jugendliche im Austausch erzählen, welche Überraschungen sie mit den Deutschen erleben.

Tragen die Deutschen tatsächlich Lederhosen? Trinken sie ständig Bier? Und sind trotzdem so pünktlich, wie man es Ihnen nachsagt? Vier junge Amerikaner wollten die Gerüchte überprüfen, die sie über Deutschland gehört hatten.

Deshalb legten Heidi ZumBrunnen, 18, Maria Noel Blanchet, 24, Paul Tilley, 23, und Elizabeth Geier, 16, ein Auslandsjahr in Deutschland ein. Dabei werden sie vom „Parlamentarische Patenschafts-Programm“ (PPP) des Deutschen Bundestages unterstützt. Das Jugendprogramm entsendet jeweils für ein Jahr Deutsche in die USA und Amerikaner nach Deutschland.

Jedem der etwa 700 Teilnehmer im Jahr steht dabei ein Abgeordneter des Bundestags oder des amerikanischen Kongresses als Mentor zur Seite. Die Jugendlichen leben in Gastfamilien, gehen zur Schule, besuchen die Uni oder machen ein Praktikum. Zur Halbzeit ziehen vier von ihnen ihr Resümee.

Heidi, 18: Die Jungs wollen gleich eine Beziehung
"Einer meiner ersten Eindrücke von Deutschland war shocking, aber doch irgendwie repräsentativ. Als ich in der ersten Nacht hier den Fernseher anmachte, flimmerten halbnackte Frauen über den Bildschirm. Daneben war eine Telefonnummer eingeblendet, damit Männer diese Mädchen anrufen.
Ebenso unsittlich fand ich den ersten Saunabesuch. Männer wie Frauen saßen dort gemeinsam komplett entblößt auf der Bank. In den USA wäre das undenkbar. Wo bitte war ich hier gelandet?

Mittlerweile weiß ich: Beim Thema Sex sind Deutsche allgemein viel offener. In Amerika können zum Beispiel die wenigsten Jugendlichen mit ihren Eltern über ihr erstes Mal sprechen. Viele sind gläubige Christen und meinen, wir sollten erst in der Ehe Sex haben. Meine Gasteltern sehen das locker, mit denen kann ich reden, und das ist gut so. Schließlich leben wir im Jahr 2009.

Nicht ganz so locker sind die Jugendlichen, wenn es um das Thema Beziehungen geht. Neulich bin ich mit einem Jungen ausgegangen. Ich dachte, es könne lustig sein, wenn wir uns ein paar Mal unverbindlich treffen. Aber er wollte eine feste Beziehung mit mir. Eine blöde Situation, die es in den USA so wahrscheinlich nicht gegeben hätte.

Die Jugendlichen hier nehmen Verabredungen und Sex viel ernster, von One-Night-Stands habe ich hier vergleichweise wenig gehört. In Amerika ist Dating unkomplizierter. Du gehst ins Kino oder in eine Bar, und niemand erwartet etwas von dir.

Die Jungs hier hingegen haben entweder schon lange eine feste Beziehung oder suchen nach einer. Ich kann so etwas nicht gebrauchen, denn in ein paar Monaten bin ich wieder weg. Und auf eine Fernbeziehung habe ich keine Lust.

In puncto Schulalltag ist der Unterricht in Deutschland besser, die Ausstattung dafür veraltet. Es wird kaum mit Computern gearbeitet, die Bücher könnten von meinen Eltern stammen. Außerdem sind die Schultoiletten meistens so eklig, dass ich sie nicht benutzen mag."

Maria Noel, 24: Viele Vorurteile gegenüber Amerikanern
"Neulich habe ich meinen Freunden erzählt, dass ich ein Auto brauche. ‚Hier in Berlin kommst du doch viel schneller mit der Bahn ans Ziel‘, sagten die. Mittlerweile habe ich festgestellt, das stimmt. In meiner Heimatstadt Orlando gibt es kaum öffentliche Verkehrsmittel, ich kannte das einfach nicht. Klar, hier fahre ich jetzt Bahn.

Mich nervt allerdings, dass die Deutschen sich für umweltbewusst halten und mich als Amerikanerin verurteilen. Für sie steht fest, dass wir viel Wasser verbrauchen und ständig die Heizung anhaben. Natürlich machen das manche Amerikaner, aber in meiner Familie achten wir darauf, keine Energie zu verschwenden.

Ich begegne hier vielen Vorurteilen: Die Amerikaner seien alle konservativ und für einen Irakkrieg - die bösen Amerikaner. Und ich muss mich rechtfertigen. Dabei finde auch ich Kriege doof.

Doch eines der Vorurteile der Deutschen stimmt. Amerikaner sprechen seltener Fremdsprachen als Deutsche. Das liegt nicht etwa an fehlendem Interesse, sondern an den wenigen Möglichkeiten, die wir haben. In der Schule und an der Universität gibt es weniger Sprachkurse als hier in Deutschland, denn in den USA wird das Thema nur stiefmütterlich behandelt. Und das ist schade.

Ansonsten finde ich mich hier gut zurecht, obwohl mein Leben so anders ist. Es ist schwer für mich, alles zu verstehen. Wenn ich mich mit Freunden über spezielle Themen unterhalte, komm ich manchmal einfach nicht mehr mit."

Paul, 23: Konfusion an deutschen Unis
"Die Organisation an meiner deutschen Uni ist sehr konfus, sofern es überhaupt eine gibt. Es nimmt dich niemand an die Hand, keiner zeigt dir, wo dein Klassenzimmer ist oder wie das Prüfungssystem funktioniert. Studenten müssen sich alleine durchbeißen und das ganze Hochschulsystem erstmal erforschen, bevor sie wirklich mit dem Studieren loslegen können.

German functionality - pünktlich und gewissenhaft sein, das gibt es hier tatsächlich. Aber letztlich ärgern sich Amerikaner wie Deutsche, wenn die Bahn zu spät kommt. Typisch deutsch ist, dass nichts typisch ist: In Konstanz ist es ganz anders als in Berlin - hier Berge und Bodensee, dort unglaublich viele Kulturen auf engstem Raum.

Die deutsche Geschichte begeistert mich, gerade in Berlin bekomme ich viel davon mit. Sie reicht so weit zurück, dass die Leute hier darüber lachen, was Amerikaner als alt bezeichnen.

Deutsche sind sehr viel aufgeschlossener, als ich vorher dachte. Ich habe die Verwandten meiner Gastfamilie im Schwarzwald besucht. Die Großeltern haben mir von ihren Erfahrungen im zweiten Weltkrieg erzählt und wollten wissen, was die Amerikaner im Rückblick darüber denken. Sie haben nach amerikanischer Kultur und Gesellschaft gefragt, nach Obama und der Präsidenten-Wahl. Es ist großartig, dass sich Deutsche so für mein Land interessieren!

Worüber ich mich aber immer noch wundere: Hier erwartet man von einem Mann, dass er sich zum Pinkeln hinsetzt."

Elizabeth, 16: Leistungsdruck in der Schule
"Lederhosen, Bier und Bayern - das verbinden Amerikaner mit Deutschland. Ich wollte meine Wurzeln kennenlernen und erfahren, wie deutsche Kultur wirklich ist. Meine Großeltern sind im Zweiten Weltkrieg aus Deutschland geflohen. Als ich klein war, haben sie mit mir Deutsch gesprochen und viel über ihre Heimat erzählt. Ich wollte wissen, was von all dem wahr ist.

Und ich muss sagen, Deutschland, wie es ist, und Deutschland, wie es sich die Amerikaner vorstellen - das sind zwei grundverschiedene Sachen.

Die Deutschen sind zum Beispiel sehr umweltbewusst, sie fahren viel Bahn und lassen das Auto lieber zu Hause. In den USA kaum vorstellbar.

Schule ist hier anstrengend, es gibt viel Leistungsdruck und wenig Entscheidungsfreiheit. Während bei uns alle auf die Highschool gehen, müssen sich die Schüler fürs Gymnasium bewerben. Außerdem muss ich hier alle Fächer belegen. Ob ich Spaß an Physik habe oder nicht, interessiert keinen.

‚Ihr müsst vorsichtig sein mit Alkohol‘ - keinen Satz habe ich so oft gehört wie diesen, unsere Betreuer haben uns das regelrecht eingebläut. Mein erstes Bier habe ich hier getrunken, geschmeckt hat es nicht.

Was sehr nervt, ist das Duzen und Siezen. Ich muss immer erst genau überlegen, wen ich wie anspreche. Das ist wirklich übertriebene Höflichkeit."

[SIZE=„1“]Quelle: Spiegel online[/SIZE]

Viele Grüsse

Kirsten

Mich erschreckt, wie viele Vorurteile, Pauschalverurteilungen und Schubladendenken es auf beiden Seiten zu geben scheint.

RREbi