Hallo,
ich bin kein Elternteil, bin auch noch nicht ganz in dem Alter. Mein Austauschjahr liegt nun aber auch schon weit über 10 Jahre zurück.
Ich sage bis heute noch, dass das Austauschjahr das beste Jahr meines Lebens war. Aber damit meine ich nicht, dass es das fröhlichste oder lustigste Jahr war, im Gegenteil. Nun gut, ich muss das etwas zurechtrücken, ich hatte sicher nicht ganz so starke Probleme, wie manche Austauschschüler, aber auch bei mir war es nicht ganz einfach.
Ich habe mich mit meinen Gasteltern gut verstanden. Es lief nicht perfekt und es gab in diesem Jahr auch einen großen Krach, der dazu führte, dass ich meiner Ansicht nach zu Unrecht für längere Zeit Hausarrest bekommen habe. Aber ansonsten verstanden wir uns gut, auch besonders dadurch, dass ich die Strafe angenommen habe (eine komplett individuelle Entscheidung, die ich nicht per se jedem Empfehlen würde). Mein Verhältnis zu meinem Gastbruder war katastrophal. Der Junge war ein verzogenes Einzelkind und leider bekam ich auch keine Hilfe von meinen Gasteltern im Umgang mit ihm, nur Mitleid. Ich habe nicht besonders viele Freunde gefunden. Ein paar, ok… aber wirklich eng war es nicht, so dass ich viele gleich nach meinem Austauschjahr aus den Augen verloren habe. Ich habe außerdem eine Menge Dinge einfach verpasst zu machen, die andere immer machen und die sie von ihrem Austauschjahr schwärmen lassen. Ich war leider in keinem Schulteam, ich hatte es einfach irgendwie alles verschwitzt und wurde auch nicht richtig drauf aufmerksam gemacht. Ich gebe daran niemandem die Schuld, ich war einfach etwas durch den Wind von der ganzen Situation.
Aber trotz allem war es das beste Jahr meines Lebens. Weil es etwas Anderes war. Weil ich zum ersten Mal das Gefühl hatte, für mich selbst verantwortlich zu sein. Weil ich lernte, wie es ist, in einem anderen land zu leben und sich dort zurechtzufinden. Weil ich spürte, dass Leute meinen Mut das zu tun anerkannten. Und weil es meine ganz eigene Sache war damals, die ich mir selbst erkämpft hatte und bei der ich stolz war, sie durchgezogen zu haben.
Mein Austauschjahr war Mitte der 90er Jahre, kurz vor dem großen Austausch-Boom. Ich habe heute noch mit Schüleraustausch zu tun, habe durch die ganzen Jahre immer in dem Bereich mitgearbeitet. Und ich merke einfach, wie sich auch die Vorstellungen davon ändern.
Ich habe es früher immer gesagt, dass ich jedem so eine Erfahrung wünsche uns es bedaure, dass nicht jeder auf diese Idee kommt. Inzwischen sehe ich das etwas anders. Versteht mich nicht falsch: Ich finde es schon gut, dass inzwischen nicht mehr so sehr die Ansicht herrscht, das sei etwas Elitäres, dass sich nur Reiche leisten können. Aber zu meiner Zeit war es noch so, dass sich fast nur diejenigen bewarben, die es wirklich wollten. Das waren vor allem Kids, die sich sehr lange damit auseinandersetzten, oftmals über Jahre. Häufig waren es Kids, die “mal raus” mussten, die unangepasst aber nicht unbedingt kompliziert waren.
In den letzten Jahren hat es sich so entwickelt, dass ein Austauschjahr zumindest bei jedem mal kurz im Kopf spukt als eine Möglichkeit, wie man sein 11. Schuljahr verbringen kann. Es ist eine Option geworden und eine tolle Methode, seinen Lebenslauf aufzuwerten.
Ich will damit nicht sagen, dass sich die Schüler nicht mehr mit dem Austauschjahr auseinandersetzen, aber es ist inzwischen eben nichts in dieser Form Einzigartiges mehr. Die meisten erarbeiten es sich nicht mehr selbst und das war damals anders. Mit “erarbeiten” meine ich nicht das Bezahlen, sondern das durchboxen von der ersten Idee bis zur Durchführung. Es ist einfach wesentlich akzeptierter als früher.
Warum erzähle ich das alles? Ich glaube, dass heutzutage wesentlich höhere Erwartungen an ein Austauschjahr gestellt werden in Bezug auf das, was es für ein Leben leisten soll.
Hinzu kommt noch, dass viele Austauschschüler sich heute nicht mehr so stark von zu Hause verabschieden müssen, wie es damals der Fall war. Bei mir war Kommunikation über Telefon nur 3 Mal im Jahr drin, weil es so teuer war. Außerdem habe ich nur Briefe geschrieben, Chats, Foren und Mail gab es nicht. Dadurch war ich aber auch gezwungen, mich noch stärker mit der fremdem Kultur auseinanderzusetzen, meine Möglichkeiten (allerdings auch mein Bedürfnis danach) deutsch zu lesen oder Dinge über Deutschland zu erfahren, geschweige denn über meine Familie und Freunde waren arg begrenzt. Viele Organisationen beklagen inzwischen, dass Austauschschüler nur örtlich das Land wechseln, im Geiste aber in Deutschland bleiben. Ich denke, auch das führt dazu, dass die Austauscherfahrung nicht mehr so tief geht.
Sorry, dass mein Post so lang ist.