Es ist zwar schon eine Weile her, dass die Frage gestellt wurde, aber aktuell bleibt das Thema trotzdem. Aus eigener Erfahrung als ATS vor vielen vielen Jahren und aktueller Erfahrung mit einem Sohn in den USA würde ich jedem Jugendlichen raten, sehr sehr gut zu überlegen, ob er für eine so lange Zeit in einem komplett anderen Leben stark genug ist. Natürlich, so genau weiß man das nicht, so mancher Mensch reagiert auf schwierige Umstände vielleicht souveräner als er von sich selbst gedacht hätte. Aber ganz ehrlich gesagt denke ich, dass das in einem ATJ eher selten so sein wird. Für mich selbst waren Sachen die für andere total nichtig klingen in der Realität z.B. sehr schwer auszuhalten (und ich hatte eine wirklich tolle Gastfamilie mit der ich auch fast 30 Jahre später noch in Kontakt bin). Das Problem war ich selbst und die Erkenntnis, dass ich eben nicht so locker flockig mit meinem neuen Leben umgehen konnte wie ich mir vorgestellt hatte. Ich hatte ein ganz anderes Bild von mir selbst und konnte mir bis dahin gar nicht vorstellen, wie anders andere Familiensysteme, andere Menschen, ja andere Nationen ticken. Es kann z.B. gerade für einen eher introvertierten Menschen wie mich sehr anstrengend sein, sich plötzlich überall wortreich vorstellen zu müssen, „gesellig“ zu sein (der Hauptanspruch in meinem Gastland Holland) und immer gefragt zu werden, ob man traurig ist, weil man eben stiller ist. Sich für längere Zeit zurück zu ziehen war nicht möglich ohne Besorgnis oder vielleicht auch Ärger auszulösen Das war auch gar kein Ausdruck von Vorwurf von meiner Umwelt sondern gerade von Sorge um mich, aber es hat den Druck noch erhöht. Und genau das hat mich mit meinen 16 Jahren damals ganz schön umgehauen und verunsichert. Dazu kamen die langen stürmischen, grauen, kalten und nassen Monate, dass die GF keine Heizung hatte wie ich sie aus dem Hochhaus kannte sondern sich einfach im Haus sehr warm angezogen hat das auch von mir erwartete. Dazu kamen auch die täglichen stundenlangen Radfahrten zur Schule gegen Wind und Wetter die Deiche entlang…heute kann ich halb darüber lachen, aber es war wirklich wirklich sehr schwer. Gleichzeitig hat eben all das natürlich etwas mit mir gemacht und gerade das letzte viertel Jahr war wie ein Aufblühen meiner Persönlichkeit und oft assoziiert man das mit einem Auslandsaufenthalt. Ich war dennoch mehrfach kurz davor, aufzugeben und habe es meiner klugen, verständnisvollen Gastfamilie und einer sehr guten Betreuung (YFU) zu verdanken, bis zum Schluss durchgehalten zu haben. Dennoch weiß ich von meinem Sohn, dass mehr Jugendliche als von der Organisation (nicht YFU) zuvor zugegeben wurde das Jahr bisher abgebrochen haben. Aus seiner Stadt, einer Großstadt in Texas immerhin über ein Drittel. Die meisten aufgrund „mentaler Probleme“, was sehr häufig Heimweh heißt, aber auch Einsamkeitsgefühle, Enttäuschung, manchmal auch Depression. Der Schüleraustausch ist nicht die einzige und letzte Möglichkeit für eine längere Zeit ins Ausland zu gehen und man sollte sich einfach selbst fragen, warum will ich das gerade jetzt? Wenn die Antwort eher darauf hinweist, dass man schöne Stories von tollen Familien, schönen Landschaften und super Freunden in der Schule gehört oder gesehen hat und genau das und nichts anderes will und erwartet dann sollte man nochmal überlegen, gerade wenn man von sich selbst weiß, dass man eher kein Stoiker ist. Schüleraustausch ist m.M. nach eine Möglichkeit in einer sehr kurzen Zeit eine intensive Entwicklung zu durchlaufen, die aber auch „nach hinten losgehen kann“. Man sollte deshalb vor dem Vertragsschluss auch darüber nachdenken, wie man mit einem Abbruch des Jahres umgehen würde. Immerhin stehen viele Jugendliche in der Zeit vor dem Jahr im Mittelpunkt von Freunden und Familie, es gibt tolle Abschiedsparties, man wird teilweise beneidet und nicht zuletzt kostet das Jahr eine Menge Geld. Für manchen bedeutet das zusätzlichen Druck, nicht zu „versagen“.
PS.: um noch einmal auf den Punkt „Steigerung des Selbstbewusstseins“ zurück zu kommen. Auch das muss es eben gerade nicht bedeuten bzw. ist hier vielleicht wichtig, Selbstbewusstsein zu definieren. Die extreme Konfrontation mit sich selbst aber auch ungünstige Erfahrungen können gerade auch dazu führen, sehr verunsichert zu werden, viel mehr, als man es in seinem gewohnten Leben in dieser Zeit gewesen wäre. Wenn man es aber positiv betrachten will kann man sagen, dass auch das natürlich zu einem neuen Selbstbewusstsein führt, auch wenn das nicht zwangsläufig das ist, was Selbstbewusstsein für die meisten Mensch landläufig bedeutet.