Uni für alle - Harvard für alle Welt
Das Internet revolutioniert die Bildung. Onlinekurse bieten die spannendsten Vorlesungen der berühmtesten Professoren an – weltweit und zum Nulltarif
An den Universitäten von heute geht es zu wie vor 500 Jahren. Damals, vor der Erfindung des Buchdrucks, las ein Gelehrter aus einem der seltenen handgeschriebenen Bücher vor, und die Studenten kritzelten eifrig mit. Es gibt Fresken aus jener Zeit, die illustrieren, dass schon im Mittelalter Studenten in der letzten Reihe während der Vorlesung ihres Professors einnickten. Und auch heute kommt das gerne vor. Die Vorlesung ist nach wie vor die dominierende Lehrform, manchem Dozenten gelingt es dabei, sein jugendliches Auditorium zu fesseln und mitzureißen. Bei anderen macht sich das Gähnen breit: Das sind jene, die seit zehn Jahren die gleichen Vorträge herunterbeten und garantiert immer an denselben Stellen dieselben Scherze einbauen. Diese Professoren bekommen jetzt Konkurrenz. Nicht durch eine ehrgeizige Neuberufung an der eigenen Hochschule, sondern durch Koryphäen aus dem Internet: Die Konkurrenz spricht nicht leibhaftig zu den Studenten, sondern über den Bildschirm. Ihr lauschen nicht nur die 200 angehenden Akademiker, die in einen Hörsaal passen, sondern 20000 Hörer und mehr. Die Studenten sitzen auch nicht mehr in einem Hörsaal beisammen, sondern sind über die ganze Welt verteilt. In Lima und San Francisco, in Johannesburg und Moskau haben sie vor ihren Computerbildschirmen Platz genommen. Sie schauen sich das Unterrichtsvideo auch nicht alle gleichzeitig an, sondern jeder dann, wann er Lust hat. Hat er etwas nicht verstanden, spult er einfach zurück. So ist das Internet dabei, nicht nur das gesamte Kommunikationsverhalten auf dem Planeten zu revolutionieren, sondern auch die höhere Bildung. Und die Universitäten machen mit – die besten Hochschulen der Welt stellen die besten Vorlesungen und Seminare ihrer besten Professoren ins Netz, und überall rund um den Globus können Wissbegierige nun die Kurse verfolgen, ihren Lernfortschritt mithilfe von Tests bemessen und zuletzt sogar ein Zertifikat erwerben. Diese neue Form der Vorlesung firmiert unter dem wenig attraktiven Kürzel Mooc (sprich: »Muhk«) und steht für massive open online courses. Jeder Interessierte findet problemlos Zugang zu diesen Kursen – und es kostet ihn kein Geld. Bildung findet künftig unabhängig vom Besuch einer Universität statt. Was ist da los? Eliteanstalten, bei denen die Ausbildung eine sechsstellige Dollarsumme kostet, geben plötzlich ihre wertvollsten Schätze umsonst her. Droht den Hochschulen jetzt die Pleite? Oder wird da gerade eine Erfolgsstrategie sichtbar, die der Welt – nach dem Vorbild von Google und Wikipedia – massenhaft Wissen verfügbar macht? Tatsache ist: Es herrscht Goldgräberstimmung bei den Unternehmen der Onlinebildung. Venture-Kapitalisten investieren Millionensummen, aber auch die altehrwürdigen Universitäten, zunächst vor allem in den USA, stecken Geld in den neuen Trend. Ein Grund, die Protagonisten dieser Bildungsrevolution einmal aufzusuchen.
Der YouTube-Pionier
Als Auslöser der Mooc-Welle gilt der ehemalige Hedgefondsmanager Salman Khan. Sein Büro liegt in Mountain View im Silicon Valley, gleich um die Ecke vom Google-Campus. Während des Interviews balanciert der 37-Jährige auf einem Gymnastikball. Er kann nicht still sitzen. Ständig ist er in Bewegung. »Ich bin da ganz naiv reingestolpert«, sagt er. Und im Grunde gehe er die Sache nach wie vor naiv an. Seine Cousine hatte im Jahr 2006 in der Schule Probleme mit der Mathematik. Khan, der am Massachusetts Institute of Technology (MIT) studiert hatte, produzierte für sie kleine, unterhaltsame Nachhilfevideos. Später stellte er die Filme auf die damals noch in den Kinderschuhen steckende Videoseite YouTube. Heute leitet Khan seine eigene Onlineakademie, über 250 Millionen Mal sind seine Videos bereits abgerufen worden. Die Khan Academy hilft immer noch vor allem Schülern, sie bietet Kurse in allen Fächern an. Khans Prinzip – auf dem inzwischen alle Moocs beruhen – ist der flipped classroom: Anstatt seinen Schülern Frontalvorträge zu halten, filmt sich der Dozent in seiner Unterrichtsstunde ab und stellt das Video ins Netz. Die Schüler können es sich zu Hause ansehen und die gemeinsame Zeit mit dem Lehrer dann für intensive Arbeit an Aufgaben nutzen. In 20000 amerikanischen Klassenzimmern wird bereits mit Khans Videos gearbeitet. »Dieser flipped classroom war nicht meine Idee, und ich war auch nicht der Erste, der Videos gemacht hat«, stellt Khan klar. Aber er war es, der die Chance zur Skalierung sah: Ob ein Video von zwei Usern oder von zwei Millionen abgerufen wird, ist auf der Kostenseite kein großer Unterschied. Schon 2008 hatte Khans Website mehr Nutzer als alle anderen Onlinebildungsangebote zusammen. »Es gibt auf dem Bildungsmarkt keine Massenmarke wie Coca-Cola«, sagt Khan. Oder besser: Es gab keine – heute ist seine Akademie so etwas wie das Coca-Cola der Onlinebildung.
Der Computerspieler
Im März 2011 war Sebastian Thrun Teilnehmer der exklusiven TED-Konferenz für technologische Ideen, die im kalifornischen Long Beach stattfand. Dort trat Salman Khan als Redner auf. Eigentlich hatte Thrun schon genug zu tun als Professor für Künstliche Intelligenz (KI) an der Universität Stanford und als Leiter der Forschungsabteilung von Google. Aber Khans Erfolg wurmte ihn doch. »Ich habe in einem Stanford-Kurs 150 bis 200 Studenten«, sagt Thrun. »Und dieser Salman Khan hat zehn Millionen!« Thrun, der aus Solingen stammt, wollte das mit der Onlinelehre deshalb auch probieren. Seinen Kurs bot er zunächst über eine fachwissenschaftliche Mailingliste an. Voll Zuversicht rechnete er mit 10000 Teilnehmern. »Aber die E-Mail verbreitete sich wie ein Virus, es haben sich an jedem Tag 5000 weitere Teilnehmer angemeldet.« Schließlich waren es 160000. Thrun hatte einen der größten akademischen Onlinekurse erschaffen. Jetzt verzichtete Thrun auf sein gesichertes Stanford-Gehalt, er reduzierte seine Anwesenheit bei Google auf einen Tag pro Woche und gründete die Firma Udacity, mit ihr bietet er Moocs vor allem in Mathematik und Computertechnik an. Er bemüht sich darum, die Vorlesungen nicht bloß abzufilmen, sondern an die Sehgewohnheiten einer Generation anzupassen, die mit Computerspielen aufgewachsen ist. »Sehen Sie sich nur das Onlinespiel Angry Birds an, da lernt der Spieler etwas. Er wird ständig bewertet, kriegt die Ergebnisse sofort und bekommt neue Aufgaben, die exakt dem persönlichen Lernniveau entsprechen«, sagt Thrun. »Wenn man diese Mechanismen auf die Vorlesung im Netz überträgt, hat man den Heiligen Gral der höheren Bildung gefunden.«
Der Marktführer
Zur selben Zeit hatten am selben Stanford-Institut zwei weitere Professoren eine ähnliche Idee. Auch Daphne Koller und Andrew Ng hatten schon ein paar Semester mit Onlinevorlesungen experimentiert, als sie die Firma Coursera gründeten. Coursera schließt Verträge mit einzelnen Hochschulen ab, die daraufhin mit der Coursera-Software ihre Kurse erstellen können. Im Zentrum des Büros, ebenfalls im Silicon Valley, hängt eine Weltkarte an der Wand, auf der von Kalifornien aus ein Wollfaden zu jeder kooperierenden Universität gespannt ist – gerade sind wieder ein paar neue Fäden dazugekommen. 62 Partner sind es mittlerweile, darunter auch die beiden Münchner Universitäten. Coursera führt den Mooc-Markt mit Abstand an, die Nutzerzahlen sind schneller gewachsen als die von Google und Twitter in ihrer Anfangsphase. Während Sebastian Thrun und Salman Khan sich mit ihrer von Superlativen strotzenden Redeweise als typische Silicon-Valley-Gewächse präsentieren, erfüllt Andrew Ng, der chinesischstämmige Coursera-Gründer, keines dieser Klischees. Der 36-jährige Computerwissenschaftler spricht leise und entschuldigt sich fast dafür, ein gewinnorientiertes Unternehmen zu leiten. Die Einwerbung von Spenden habe einfach nicht funktioniert. »Meine Inspiration war eigentlich Wikipedia«, sagt Ng. »Aber immer wenn man die Seite besuchte, sah man das Bild des um Geld bettelnden Gründers. Das wollte ich nicht.« Sobald er und seine Geschäftspartnerin auf Gewinnorientierung umschalteten, sprudelten die Gelder der Investoren. Bald waren es 22 Millionen Dollar Startkapital. Auch wenn die Firma natürlich irgendwann ihre Kapitalgeber zufriedenstellen muss (siehe Geld verdienen mit kostenlosen Kursen?, Seite 37), betont Ng, dass die Kurse immer kostenlos bleiben werden. Denn: »Coursera geht es um Bildung, nicht um Profit.« Kann ein Student aus einem Entwicklungsland die bescheidene Gebühr für eine Prüfung nicht aufbringen, wird sie ihm ohne große Nachfragen erlassen.
Die Etablierten
An der amerikanischen Ostküste ist man auf einem anderen Weg. Das Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge hatte bereits vor zehn Jahren unter dem Namen Open Courseware Unterrichtsmaterialien kostenlos ins Netz gestellt. 120 Millionen Menschen in aller Welt haben sich seither daraus bedient. Herausgefordert durch die neu gegründeten Firmen in Kalifornien, möbelte man dieses alte Angebot mit moderner Technik auf. Das MIT und der Lokalrivale Harvard investierten 60 Millionen Dollar und gründeten ein Non-Profit-Unternehmen namens edX für die Vermarktung ihrer Onlinekurse. Inzwischen prangen die Logos zwölf renommierter Universitäten auf der edX-Homepage. Betritt man das wirkliche edX-Office, fällt der erste Blick auf einen gewaltigen Bildschirm, auf dem eine Dia-Endlosschleife die »Revolution der Bildung« anpreist. Bis vor Kurzem war der indisch-amerikanische Informatikprofessor Anant Agarwal der oberste Computerwissenschaftler am MIT. Jetzt leitet er mit Enthusiasmus dieses etwas andere Start-up, führte selbst den ersten Onlinekurs durch (siehe Eine Riesenchance…, Seite 37). »Jahrhundertelang hat sich die höhere Bildung nicht verändert«, sagt er, »jetzt kommt der Wandel.« Alle Universitäten müssten plötzlich darüber nachdenken, was sie Besonderes leisten könnten. Jeder dritte amerikanische Student belegt schon heute Onlinekurse. Anstatt sich um acht Uhr früh in den Hörsaal zu quälen, rufen selbst MIT-Studenten die Vorlesungen gern im Computer ab – bevorzugt zwischen Mitternacht und zwei Uhr morgens. Die nächste Generation werde schon vor dem Uni-Besuch einige Kurse online absolviert haben und brauche dann fürs College nur noch zwei oder drei Jahre – statt wie bisher vier, vermutet Agarwal. Es folgt das lebenslange Onlinelernen. »Und lassen Sie mich träumen: Forschungen nehmen größeren Raum ein, handwerkliche Tätigkeiten auch. Die Professoren haben Zeit und können als Gelehrte wie vor Tausenden von Jahren kleine Gruppen von Studenten um sich scharen.« Bleibt die Frage: Werden diese Studenten der Zukunft noch die horrenden amerikanischen Studiengebühren zahlen wollen? Harvard, Princeton und Stanford bieten neben erstklassiger Bildung auch eine Eintrittskarte in die besseren Kreise. Der Job, den man mit Harvard-Diplom bekommt, so die Rechnung, macht es einem leicht, die im Studium angehäuften Schulden später abzutragen. Für die Absolventen der weniger prominenten Colleges, die nur unwesentlich billiger sind, geht die Rechnung oft nicht auf. Die Studiengebühren haben sich in den USA seit 1985 fast versechsfacht, die Jobaussichten sind gleichzeitig gesunken. »Früher war die Collegeausbildung ein Weg, um in die Mittelklasse aufzusteigen«, ätzt der Internetexperte Clay Shirky, »heute braucht man sie, um nicht aus der Mittelklasse herauszufallen.« Die Moocs sind hier die günstigere Alternative. Und oft auch die qualitativ bessere. Gegner des neuen Onlinetrends bemängeln, ein paar Zertifikate aus dem Netz könnten nicht die Persönlichkeitsbildung eines Colleges und die Erziehung zum kritischen Denken ersetzen. Doch das gilt nur für Eliteschulen, nicht für Massenhochschulen, an denen der Einzelne untergeht. Die werden sich von ihren Studenten fragen lassen müssen, was sie denn noch bieten. Insbesondere, wenn sie auf die Onlinekurse namhafter Unis als multimediale Lernvorlagen zurückgreifen. Die staatliche Universität von San Jose in Kalifornien schaffte es mit Agarwals Elektronikkurs, die Durchfallquote von 40 auf 9 Prozent zu senken. Die traditionellen Universitäten können längst nicht mehr den Bedarf an exzellentem Nachwuchs befriedigen. Die Studienplätze an diesen Institutionen sind eine künstlich verknappte Ware. Schon heute nimmt Harvard nur sechs Prozent der Bewerber an, die alle intellektuellen Voraussetzungen für einen Studienplatz erfüllen. Und in Sebastian Thruns Onlinekurs über Künstliche Intelligenz, an dem auch die Studenten seiner eigenen Uni teilnahmen, landete bei der Abschlussprüfung der beste Stanford-Student auf Platz 412.
Die Zukunft
Inzwischen gibt es sogar schon Pläne, die Skalierbarkeit der Onlinebildung mit der Idee des klassischen Colleges zu verbinden. Das Minerva-Projekt in San Francisco soll ab Herbst 2015 eine neue Elite-Uni werden, mit Studenten, die rings um den Erdball verteilt leben, allein oder in kleinen Gemeinschaften, und sich nur online zu Seminaren treffen. Kostenpunkt: 10000 Dollar pro Jahr. Es wäre die erste Neugründung einer amerikanischen Elite-Uni seit 100 Jahren. Sebastian Thrun sieht seine Firma Udacity dagegen als eine Art »Ikea der Bildung«. Die Onlinerevolution werde zu einer Entwicklung führen, die nur wenige Institutionen überlebten, glaubt er. In 50 Jahren werde die Hälfte des akademischen Marktes von zehn Institutionen abgedeckt. Der Coursera-Gründer Andrew Ng hält nichts von solchen Visionen: »Ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich dem widerspreche!« Coursera biete jetzt schon Kurse von Universitäten aus vier Kontinenten an. Er ruft im Computer einen chinesischen Kurs auf über die exotische Kunst der Kunqu-Oper – Beweis dafür, dass Bildung der Zukunft kein McDonald’s-Einheitsfraß sei, sondern im Gegenteil eine Chance für kulturelle Vielfalt. Es ist kein Zufall, dass die vier amerikanischen Bildungsrevolutionäre alle Einwanderer in der ersten oder zweiten Generation sind. Ihnen geht es nicht nur um die Reform der US-Hochschulen, sie begreifen Bildung als internationales Menschenrecht. Salman Khan ist der Blick in die Welt wichtiger als eine elitäre Ausbildung in ehrwürdigen Gemäuern: »Meine Kinder bilden sich mehr, wenn sie ein Jahr mit dem Rucksack durch Europa reisen und dort die Klassiker lesen, als wenn sie sich in einer amerikanischen Studentenverbindung betrinken.«
[SIZE=„1“]Quelle: DIE ZEIT vom 14. März 2013[/SIZE]